Die Kunst der Kinaesthetic und der Einfluß von Chekhov

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Du willst deiner Filmmacherei also mehr Finesse verleihen? Willst du Aufnahmen mit klassischer Gelassenheit machen oder in den Bereich des Darstellers vor-dringen? Ziehen wir mal den potenziellen Einfluss von Schauspieler, Regisseur und Performance-Guru Michael Chekhov (1891–1955) auf den Film in Betracht.

Text: von Ian Dixon; Fotos: Phil Wilkinson (Qantm Melbourne)

Ian Dixon is a pro- fessional screenwriter, director and actor working in the Australian film and television industry. He has been funded by Film Victoria and Screen Australia and worked on most Melbourne-based  Television programs.

Ian Dixon is a pro-
fessional screenwriter, director and actor working in the Australian film and television industry. He has been funded by Film Victoria and Screen Australia and worked on most Melbourne-based
Television programs.

Chekhov war ein hochintelligenter und leichtfüßiger Darsteller, ausgebildet vom russischen Meister Constantin Stanislavsky. Chekhov fiel dem Theaterpublikum in Russland 1913 erstmals als genialer Mime auf. Er tauchte in der Weimarzeit in deutschen Filmen auf und schauspielte in den 1950ern unter so herausragenden Regisseuren wie Ben Hecht und Alfred Hitchcock (Gordon in Chekhov, 1985) in Hollywood.
Beim Schauspieler baut Chekhov auf die bekannten Bereiche von Motivation und Ziel. Diese Stanislavskysche Tradition bildet die Basis für nahezu die gesamte Filmschauspielerei im 20. Jahrhundert (Naremore, 1988). Chekhov empfiehlt jedoch, dass der Schauspieler ein lebhaftes Wesen mit kühner kinäasthetischer Präsenz ist.
Kinästhesie ist die Fähigkeit ‚mit Sensation zu bewegen‘ oder das Gefühl von ‚muskulärer Anstrengung‘, die jede ‚willkürliche Bewegung des Körpers‘ begleitet (Dowd, 2006). Chekhov vermeidet den latenten Intellektualismus von Stanislavskys Herangehensweise durch die Ermutigung zum kinästhetischen Bewusstsein zwischen den Schauspielern und befreit somit deren kreatives Unbewusstsein. Der Prozess erlaubt eine gegenwärtige Direktheit, die für die Filmkunst essentiell ist und das Publikum fesselt.

The-Art-of-Kinaesthetic_DSC_0047_korrChekhovs Übungen erzeugen einen Heiterkeitsrausch (Gordon in Chekhov, 1985) und größere Aufmerksamkeit für andere Akteure, während sie tieferen Zugang zum Innenleben erlauben (Chekhov, 1953). Durch diese vergrößerte Aufmerksamkeit für das körperliche Hinhhören kreiert Chekhov seine wertvollste Übung: spontane Gruppierungen (Sharp, 2002). Hier improvisiert eine Gruppe von Schauspielern frei und friert dann augenblicklich komplizierte zusammenhängende Gesten ein. Die Akteure lesen sich praktisch gegenseitig auf eine kinästhetische Art und Weise, um Bilder physikalischer Formen entstehen zu lasssen. Die resultierenden Strukturen entstehen gleichzeitig ohne Vorbereitung‘ (Chekhov, 1953, S. 43).

The-Art-of-Kinaesthetic_DSC_0066_korrWas bedeutet das für uns Filmemacher? Zunächst ermutigt es uns, unser Herangehen ans Schauspiel zu überdenken. Nicht nur als eine Übung zur Entwicklung von Bildern, sondern als kinästhetische Echtzeit-Interaktion mit den Akteuren. Ferner erlaubt es unseren Bildern eher aus der Performance zu entstehen als dieser aufoktroyiert zu werden. Anstatt darüber nachzudenken wie wir eine Performance für die Kamera gestalten könnten, könnten wir unseren Prozess hier vielleicht umkehren. Wenn wir den Schauspielern erlauben zu performen, sie dazu bringen Spaß zu haben, und erst dann mit den Kameras die resultierende Dynamik auf einem neuen Weg einfangen, können wir vielleicht die statische Gegenschussformel umgehen. Wir könnten die Akteure wachsam sein lassen für phantasievolle Möglichkeiten des Drehbuchs und ihre kinästhetischen Körper dementsprechend integrieren. Die Leinwand wird nun in einer gänzlich einnehmenden Art lebendig. Wie der große Orson Welles einst bekanntgab, sei das Problem mit Film, er kommt in Dosen und “er ist nicht ganz frisch, oder?“ (Kiselyak, 2000).

The-Art-of-Kinaesthetic_DSC_0072_korrFür den modernen Filmemacher, der gleichermaßen nach Spontanität und Bedeutung sucht, ist dies eine unschätzbare Lektion. Kinästhetische Regisseure trauen ihrem eigenen Instinkt für die Erschaffung geschmackvoller Performances. Sie erlauben es visuell fesselnden lebendigen Bildern aus der Atmosphäre zu entstehen (Chekhov, 1953). Der zeitgenössische Action-Film und das australische Fernsehen beginnen momentan solche Praktiken mit einzubeziehen. Der moderne Regisseur sollte daher solche Techniken als legitimen Aspekt seiner dramaturgischen Arbeit und seiner bildlichen Sprache nutzen.

The-Art-of-Kinaesthetic_DSC_0074_korrReferenz Liste
•                Chekhov, M. (1953). To the actor. New York: Harper & Row, Publishers, Incorporated.
•                Chekhov, M. (1985). Lessons for the professional actor. New York: Performing Arts Journal Publications.
•                Dowd, I. (2006). Ideokinesis: The 9 lines of movement. Kinetics 1. Melbourne: Victorian College of the Arts, University of Melbourne.
•                Kiselyak, C. (Producer/Director/Writer). (2000). A constant forge: The life and art of John Cassavetes [Motion picture]. United States of America: Castle Hill Productions & The Criterion Collection.
•                Naremore, J. (1988). Acting in the cinema. United States of America: University of California Press.
•                Watson, S. (1997). Spontaneous cinema? In the shadows with John Cassavetes. In J. Sergeant (Ed.), The naked lens: An illustrated history of beat cinema (pp. 55 – 68). London: Creation Books.

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